Walking-In-Your-Shoes Akademie


Was ist Walking-In-Your-Shoes?

Walking-In-Your-Shoes...

 

...ist eine phänomenologische Selbsterfahrungsmethode, mit der du dich selbst, dein Leben, dein Anliegen, andere Personen und Dinge besser verstehen kannst. Durch das detaillierte Hineinschauen in bestimmte Rollen oder Personen, bekommst du tief greifende Antworten und Lösungen für deine privaten oder beruflichen Anliegen. Das Verständnis kommt aus der gegangenen Rolle selbst, indem sie berichtet, was sie auf ihrer "Abenteuerreise" erlebt und entdeckt.

 Du bittest eine Person...

 

...für dich eine bestimmte Rolle zu gehen. Diese Person, die/der Walker*in, lässt sich für diese Rolle in den Dienst nehmen und bewegt sich körperlich, z. B. durch Gehen, ca. 15-25 min ganz intuitiv und spontan im Raum. Die/der Walker*in begibt sich stellvertretend auf eine "Entdeckungsreise" durch die Rolle, welche durch die Leiterin/den Leiter begleitet wird. Die Bewegung erzeugt Energie und die Energie erzeugt Information. Diese Information hilft den Ratsuchenden ein detailliertes Verständnis auf einer tieferen Ebene zu finden. Langjährige Erfahrungen zeigen, dass die Rolle, die gegangen wird, eine erstaunliche Übereinstimmung mit der Wirklichkeit hat, welche in der Tiefe wirkt.

 Für deinen Walk ist...

 

...eine Rolle sinnvoll, von welcher du annimmst, dass sie Antworten auf Fragen für dein Verständnis, dein Wachstum und dein Fortkommen liefert. Beispielsweise könnte das sein: du selbst, dein Partner, dein Kind, eine Person mit der es Konflikte gibt, dein blinder Fleck, deine berufliche Zukunft, deine Berufung, dein unentdecktes Potential, dein Symptom, dein Glück, dein Erfolg, dein inneres Kind, deine Seele, deine Entscheidung. Möglich sind auch Themen aus deinem Umfeld, beispielsweise dein Haustier, dein Haus, deine Firma, dein Projekt, usw.

Wie "geht" Walking-In-Your-Shoes nun genau?

 

Bericht von Christian Assel

 

Walking-In-Your-Shoes ermöglicht auf besondere Weise das Verständnis für Personen, Tiere und Elemente unserer Welt. Dieses Verständnis ist immer dann wichtig, wenn sich Konflikte, Schwierigkeiten oder Hürden aufgetan haben, die ein Handeln auf einer inneren Ebene erforderlich machen. Falls du z.B. eine bestimmte Person auf tiefe Weise verstehen lernst, die Beweggründe für ihr Handeln, ihre An- und Absichten, ihr Innerstes, ihre Seele, dann fällt es dir leicht, diese zu achten und sie anzuerkennen. Du kannst sie genau so nehmen, wie sie ist, was eine gute Beziehung zwischen euch fördert, mit mehr Kraft und mehr Möglichkeiten für beide.

Mit "Walken" ist buchstäblich „Gehen“ gemeint. Der/die Ratsuchende bestimmt jemanden aus der Gruppe, der als Stellvertreter für sie/ihn eine bestimmte Rolle geht. Dieser Stellvertreter, wir nennen ihn "Walker", bewegt sich im Raum, und zwar ganz nach dem inneren Impuls. Durch den Prozess der körperlichen Bewegung kommt die gehende Person in die Rolle hinein, von der sie durch die dynamische Bewegung mehr und mehr spürt. Der Stellvertreter "geht" also buchstäblich in die Rolle, und der Walk wird so zu einer kleinen Erlebnisreise. Der/die Walker*in wird selbst zur Rolle und kann aus der Tiefe in einer detaillierten Weise berichten. Unbekannte und bislang unsichtbare Wirklichkeiten werden auf diese Weise sichtbar und erkennbar.

Entwickelt wurde diese Methode von dem Psychotherapeuten John Cogswell und dem Schauspieler Joseph Culp. John suchte nach einer Möglichkeit, seinen Klienten besser zu helfen, indem er sie walken ließ oder selbst für sie ging. Dadurch konnte er umfassender beraten. Joseph suchte nach einer Möglichkeit, tiefer in die jeweilige Film- oder Theater Rolle hineinzufinden, denn zwischen dem Schauspieler und der Rolle wird eine erstaunliche Nähe erreicht. Im Experimentieren mit dieser Methode sah Joseph bald, dass auch Rollen aus dem "richtigen" Leben gegangen werden können, was die bisherigen Grenzen der Schauspielerei sprengte. Daraus entwickelte sich Walking-In-Your-Shoes, wie wir es heute kennen.

Auf der phänomenologischen Ebene von Walking-In-Your-Shoes, die vielleicht auch die "seelische" Ebene genannt werden kann, zeigt sich das Anliegen der/des Ratsuchenden auf eine besonders echte Weise. Sie/er kann erkennen, wie der Walker das Anliegen empfindet, sich in der Welt sieht, was es hat, was es braucht, die Leichtigkeit, die Schwierigkeit, dessen Impulse und Blockaden. Wenn die/der Ratsuchende das Anliegen besser versteht, kann sie/er ein Mitgefühl dafür entwickeln und sich tiefer im ganzen darauf einlassen. Dadurch fällt es leichter, dem Anliegen mit Verständnis und Liebe zu begegnen und entsprechend zu handeln. Das dient dem Leben und fördert das Miteinander. Wir können daran wachsen, weil wir entdecken, wie andere zu uns, und wie auch wir zu ihnen stehen. Je mehr Walking-Rollen gegangen werden, desto mehr Antworten auf Fragen bekommen wir. Wir nähern uns dem an, was uns von außen entgegentritt, und kommen gerade so zu uns selbst.


Welche Rollen sind geeignet?

Solange ein echtes Anliegen einer/eines Ratsuchenden vorhanden ist, gibt es kaum etwas, das nicht für eine Rolle bestimmt werden könnte. Grenzen sind meines Erachtens dort, wo eine Rolle außerhalb des eigenen Erfahrungshorizonts liegt und nicht mehr von direkter Bedeutung ist, zum Beispiel bei Neugierde. Dann kommen wir in den Bereich der Beliebigkeit und müssen uns fragen, ob diese Methode noch sinnvoll und verantwortlich genutzt wird, bzw. ob die vorhandene Zeit nicht besser für einen anderen Walk genommen werden kann. Es kommt für mich als Leiter ebenfalls nicht in Frage, ein Anliegen zu bearbeiten, das andere Ziele oder Absichten verfolgt, als das glückliche Leben und das Wohl der/des persönlich Anwesenden. Eine Ausnahme für Nichtanwesenheit, wäre nur der ausdrückliche Auftrag einer/eines Ratsuchenden. Einmal war das der Fall, als jemand mit mir arbeiten wollte, der im Gefängnis saß und nicht selbst dabei sein konnte.

Dennoch gibt es scheinbar unbegrenzte Möglichkeiten und Richtungen, in die ein Walk gehen kann. Für die richtige Auswahl kann sich der Ratsuchende am besten folgende Fragen stellen: "Welche Rolle könnte mir Antworten auf meine wichtigste Frage geben. Welche Rolle könnte mir in meiner jetzigen Situation, in meiner jetzigen Lebensphase, mit meinen jetzigen Herausforderungen am meisten weiterhelfen? Welches Verständnis bringt mich voran?"

Auch ein Lebens-Partner kann gegangen werden, denn er spielt eine wichtige Rolle. Es kann auch eine problematische Person aus dem Lebensumfeld ausgewählt werden: Ein Arbeitskollege vielleicht, oder ein Nachbar, etc. Dies hilft, die Person neu zu begreifen, denn problematisch ist sie nur dann, wenn sie nicht verstanden wird. Eine Einsicht ist ein Schlüssel zu einem neuen Verhalten – und zu sich selbst.

Auch ein Tier kann gegangen werden. Dies ist ein besonders fruchtbarer Bereich, der noch viel unentdecktes Potential enthält. Tiere haben einen intensiven Anteil am Leben des Menschen. Sie besitzen ein Gespür für feine Strömungen und Störungen und können emotionale und geistige Gegebenheiten, sowie Veränderungen wahrnehmen. Wenn das Leben des Tieres oder die Beziehung zu dem Tier besser verstanden werden soll, dann hat ein Walk einen doppelten Effekt, und zwar für Tier UND Mensch. Dem Tier kann oft nur geholfen werden, wenn auch dem Menschen geholfen wird. Da Tiere sehr häufig Probleme und Lasten des Menschen übernehmen, die Menschen das aber oft erst spät bemerken, braucht es häufig die Einsicht in etwas Wesentliches aus dem menschlichen Bereich, um das Tier zu entlasten. Wenn wir erkennen auf was das Tier schaut, ist das ein wichtiger Hinweis darauf, was der Mensch übersehen hat. Wenn der Mensch das Problem löst, befreit es auch das Tier.

Es kann auch ein bestimmter Anteil einer Person gegangen werden, z.B. das Innere Kind, den "Blinden Fleck" (es gibt bestimmt einen...), eine Krankheit, bzw. ein Symptom, das „größte Talent“, einen „unterentwickelten Bereich“, die Berufung, die Sucht, die Zukunft, die Selbstachtung... usw. In jedem Falle gilt für mich der Satz: Es kann nie genug Verständnis geben!


Der Ablauf von Walking-In-Your-Shoes

Es beginnt damit, dass die Rolle des "Gehenden" bestimmt wird. Die richtige Auswahl ist nicht immer gleich eindeutig, weshalb wir manchmal die Situation und das Anliegen besprechen. Dann wird jemand aus der Runde ausgewählt, der diese Rolle für die/den Anliegensteller*in "gehen" soll. Obwohl sie/er auch selbst walken kann, empfiehlt sich das nur für erfahrene Walker*innen. Der/Die Stellvertreter*in macht sich dann bereit, indem sie/er alles andere vergisst. Die Person lässt sich für den nun anschließenden Prozess in den Dienst nehmen und spürt, was auch immer jetzt gleich kommen mag, ohne Bewertung, ohne eigene Agenda und ohne Interpretation. Sie wiederholt und benennt noch einmal die eigene Rolle laut, so dass es alle hören können. "Ich bin jetzt [Name der Rolle]".

Dann beginnt der Walk mit dem ersten Schritt, das heißt, sie/er beginnt sich im Raum zu bewegen, ganz nach dem inneren Gefühl. Alles Weitere zeigt und ergibt sich dann aus dem, was die/der Gehende äußerlich und innerlich aus der Rolle wahrnimmt. Es gibt keine Vorgaben, und alles kann passieren. Das Vorgehen ist deshalb interessant, weil das, was sich in dem Walk zeigt, sehr viel mit dem Anliegen des Ratsuchenden zu tun hat. Die Präzision ist immer wieder erstaunlich mit der die hervortretenden Informationen der Wirklichkeit entsprechen. Eindrucksvoll auch, wie manche Teilnehmer geradezu verblüfft sind, obwohl die/der Walker*in keinerlei (bekannte) Informationen über die Rolle hat.

Wenn die/der Gehende sich nach dem ersten Schritt zunächst noch orientieren und in der Rolle zurechtfinden muss, ist es sinnvoll, zunächst einfach in Kreisbahnen zu beginnen, bis der Kontakt zu der jeweiligen Rolle stärker geworden ist und deutlich wird, wo es "lang" geht. Jede andere Bewegung kann aber auch möglich sein, und es ist gut, als Leiter*in keine Vorgaben zu machen. Manche Rollen haben sich dadurch ausgezeichnet, dass nicht einmal der erste Schritt gegangen werden konnte. Wenn der Walk von Stagnation oder Schwere bestimmt wird, dann ist dieses ein wichtiger Hinweis, und es wäre sinnlos, ein Gehen zu erzwingen. Ein anderer Walk wiederum, kann im Gegensatz dazu von Leichtigkeit und Kraft bestimmt sein, und die Bewegung und die Informationen "sprudeln" nur so heraus. Ich kann als Leiter bei den Schritten darauf schauen, in welcher Art die Person sich bewegt, bzw. was auffällig oder charakteristisch ist. Macht sie große Schritte oder kleine, geht sie schnell oder langsam, gibt es einen Rhythmus oder ein Muster, geht sie energisch oder schwach, wo schaut sie hin, wo nicht. Wie nehme ich, und wie nimmt sie den Walk wahr. Was ereignet sich vor meinen Augen?

Durch das Gehen kommt der Körper in Bewegung, vielleicht in einen Takt oder einen Rhythmus, und es wird Energie erzeugt. Durch die Energie der Bewegung werden auch Bilder, Emotionen und Eindrücke freigesetzt, die mit dem, was hinter der Rolle steht, sehr viel zu tun haben. Und genau das wollen wir finden. Während die/der Gehende sich in der Rolle bewegt und die Wahrnehmung vertieft, frage ich als Leiter, was genau wahrgenommen wird, ob Bilder oder Empfindungen da sind, und was gerade das Besondere an diesem Prozess ist. Durch das Beobachten und Fragen versuche ich mir ein Bild zu machen und die wichtigen Details herauszuarbeiten, um sie für die/den Teilnehmer*in und der Gruppe darzulegen. Es ist dabei sehr wichtig, bei der Wahrnehmung der Rolle nicht zu interpretieren, sondern eng am Geschehen zu bleiben. Ich gehe nicht in die Phantasie, sondern bleibe mit meinen Gedanken und Bildern nah am Wahrnehmbaren. Wichtig ist, dass ich auf das Wesentliche des Walks schaue; allein darin liegt der Sinn dieses Prozesses, und die Auswahl der Fragen an die/den Gehende*n richtet sich nur danach aus.

Ein Walk ist eine Momentaufnahme. Was ans Licht kommt, hat in dem konkreten Moment eine Gültigkeit. Diese Gültigkeit kann sich über eine sehr lange Zeit erstrecken, jedoch genauso auch, durch veränderte Situationen in dem Leben, der Welt oder der Erkenntnis des Ratsuchenden, sich rasch verändern. Für alle Zeit zutreffende Erkenntnisse werden wir kaum finden. Das würde der ständigen Wandlung und dem Wachstum aller Dinge widersprechen. Auch machen wir keine Wahrsagerei und nehmen keine Wahrheit in Anspruch. Wenn überhaupt etwas wahr ist, dann die Tatsache, dass sich durch den Walk etwas für das Leben oder Wohlergehen des Teilnehmers ändern kann.

Am Ende des Prozesses, wenn sich etwas Wesentliches gezeigt hat, ist es ratsam, die/den "Gehende*n" wieder aus der Rolle zu entlassen. Das gelingt gut, wenn die Teilnehmer sich bei ihrer/ihrem Walker*in bedanken und ihn wieder beim richtigen Vornamen nennen. "Danke für deinen Dienst. Du bist jetzt wieder... [Name]".

 

 

 

 

Wie ist Walking-In-Your-Shoes enstanden?

 

Auszug aus dem ersten Buch von Christian Assel: "Gehen heißt Verstehen", 2010.

 

Wie es begann

 

Vor einigen Jahren bin ich einem „zufälligen“ Hinweis nachgegangen und habe in Kalifornien das in Deutschland bis dahin unbekannte Walking-In-Your-Shoes kennengelernt. Ich habe es von Joseph Culp erlernt, der es – zusammen mit dem Psychotherapeuten John Cogswell – mitgegründet hatte und bin seitdem in Deutschland auf große Resonanz gestoßen. Entwickelt wurde die Methode innerhalb der Film- und Theaterwelt. Joseph setzte sie zunächst hauptsächlich dafür ein, um sich tief in die jeweilige Rolle einfühlen zu können. Auf diese Weise konnte eine erstaunliche Nähe und Identifikation des Schauspielers mit seiner Rolle erreicht werden. Es wurde aber bald klar, dass auch Rollen aus dem realen Leben, z. B. wirkliche Personen, „gegangen“ werden können und dies die bisherigen Grenzen der Schauspielerei sprengte. Daraus entwickelte sich Walking-In-Your-Shoes, wie wir es heute kennen. Das Gehen erfüllt die Rolle eines Perspektivwechsels. Etwas kommt durch die neue Sicht in Bewegung und zeigt, wie es mit einer Person weitergehen kann. Benannt wurde es nach dem indianischen Sprichwort: „Du kannst einen anderen Menschen nicht verstehen, bevor du nicht tausend Schritte in seinen Mokassins gegangen bist.“ Der „Walker“ schlüpft mental und gefühlsmäßig in die Schuhe, in die Haut desjenigen, den er „walkt“. Es entsteht ein Mitgefühl, ein Ausdruck von innerer Empathie, die sich in der körperlichen Bewegung des bewussten Walkens äußert.

 

Das erste Kennenlernen

 

Als ich Ende 2006 einen Kurs im Familienstellen in San Francisco gab, fragte mich in der Pause ein Teilnehmer, ob ich Walking-In-Your-Shoes kenne. Ich musste seine Frage verneinen. Es sei irgendwie verblüffend, meinte er, denn das Grundgefühl in meinem Kurs und die Atmosphäre in den Stellvertretungen seien ihm sehr bekannt vorgekommen. Es habe ihn an Walking-In-Your-Shoes Kurs erinnert. Mehrfach wiederholte er, dass ich Walking-In-Your-Shoes unbedingt einmal selbst ausprobieren müsse und nannte den Namen Joseph Culp aus Los Angeles. Es verging ein ganzes Jahr, bis ich mich erinnerte, was der Teilnehmer über diese Methode gesagt hatte. Normalerweise spüre ich bei vergleichbaren Vorschlägen eher eine natürliche Zurückhaltung, weil ich eine Flut davon bekomme, doch bei Walking-In-Your-Shoes wusste ich merkwürdigerweise gleich, dass ich mehr darüber erfahren wollte. Irgendetwas berührte mich und ließ meine Zurückhaltung überwinden. Über das Internet habe ich meinen Weg zu Joseph Culp und seinen Workshops in Los Angeles gefunden, nur sechs Autostunden von San Francisco, und ließ mich schließlich selbst durch ihn in dieser Methode ausbilden.

 

Joseph Culp, Autor, Regisseur und Schauspieler, begründete Walking-In-Your-Shoes 1986 gemeinsam mit dem Psychotherapeuten John Cogswell. Seit 1990 bietet er Kurse für Schauspieler und Regisseure an, in denen er Darsteller und Therapeuten zusammenbringt. 1992 gründete er die „Walking Theater Group“, in der Joseph das Walken benutzt, um die Rollen der Teilnehmer mit Film- und Theaterschauspielern besser zu verstehen. Hier geht es um das Begreifen der Rolle durch das Walken von „innen“ her. Es gibt offenbar in jeder Rolle einen inneren Kern, den es gilt im Walken zu entdecken, ihn zu spüren, von allen Seiten zu betrachten und von dort heraus zu entwickeln. Auf diese Weise kann ein Schauspieler die Rolle wesensgemäß verkörpern und leichter zu der dargestellten Person werden.

 

Joseph hatte die Methode zusammen mit John nach der Entdeckung weiter entwickelt. John war bis zu seinem Ruhestand Psychotherapeut in langjähriger Praxis in Los Angeles. Er bildete sich in humanistisch-existentieller Psychotherapie, studierte C. G. Jung, und praktizierte Buddhismus, von 1982 bis 2002 unter der Anleitung des tibetischen Lama Gyatrul Rinpoche. Ab 1993 veröffentlichte er Artikel über Walking-In-Your-Shoes. Zuletzt unterrichtete er Therapeuten-Kollegen in Los Angeles und Santa Barbara in dieser Methode. Der Einfluss von Lama Gyatrul, bei dem er auch die Bodhisattva-Gelübde nahm, verstärkte seine Erfahrung des „Einsseins“ aller Wesen und seine Fähigkeit zu echter Empathie, wie aus dem im Anhang abgedruckten Interview mit ihm hervorgeht. Die beiden Gründer von Walking-In-Your-Shoes erkannten früh, dass nicht nur Schauspiel- und Theaterrollen „gegangen“ werden können, sondern auch Rollen aus dem realen Leben, z. B. wirkliche Personen. Diese Erkenntnis ließ sie über die bisherigen Grenzen der Schauspiel- und Theaterszene hinausgehen, was zu der Entwicklung von Walking-In-Your-Shoes in seiner heutigen, umfassenderen Form führte.

 

Mein erstes Treffen mit Joseph Culp fand im März 2008 im „Electric Lodge Theatre“ in Venice bei Los Angeles statt. Er wartete schon am Eingang auf mich, während ich mit dem Auto auf den Parkplatz fuhr, und begrüßte mich herzlich, mit einer offenen Atmosphäre. Die Fotos auf seiner Webseite hatten einen gut aussehenden, maskulin wirkenden Mann gezeigt, der für eine Model-Agentur hätte arbeiten könnte, so wie der „Marlboro Man“ aus der Werbung, doch jetzt er wirkte jetzt ganz „normal“ und natürlich auf mich. Gemeinsam gingen wir in den Kellerraum des „Electric Lodge Theatre“, der auch als Lager für das Theater diente und von Joseph offenbar häufiger für seine Walking- und Theatergruppe genutzt wurde. In dieser Gruppe gibt er anderen Schauspielern Unterricht und hilft ihnen, durch Walks die eigene Rolle im Theaterstück genau kennenzulernen und zu verinnerlichen. In diesem Raum trafen wir uns ab jetzt an mehreren Tagen für jeweils einige Stunden zum Einzelcoaching.

 

Joseph bat mich, ihm direkt gegenüber auf einen Stuhl zu setzen. Dann erklärte er mir langsam und ruhig den Ablauf und wiederholte ein paar wichtige Dinge anhand seiner Unterlagen, die ich mir ausgedruckt hatte. Obwohl ich einiges schon aus dem Familienstellen kannte, was allgemein zur Rolle des Stellvertreters gehörte, war der Ablauf viel praktischer und weniger theoretisch, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Er schlug vor, dass er selbst zunächst etwas für mich „walken“ wollte, und fragte, welche Person ich mir dafür auswählen würde. Als erstes mochte ich mir meinen Vater anschauen. Joseph stand auf und sagte, er werde sich nun innerlich leer machen, bis er bereit sei, sich ganz auf den Prozess einzulassen – egal was auch immer passieren möge. Er benannte laut und deutlich seine Rolle, die er jetzt einnehmen würde – „I am now Chris‘ father“ (Ich bin jetzt Chris’ Vater). Der Walk begann mit dem ersten Schritt. Er ging im Raum im Kreis herum. Nach einer Weile fing er an, von den Dingen zu berichten, die er in der Rolle erlebte. Er sprach laut vor sich hin, so als spräche er zu sich selbst, und schilderte seine Wahrnehmungen, während er sie gleichzeitig empfand. Dadurch hörte ich detailliert, wie es ihm als meinen Vater in jeder Phase des Walks erging. Plötzlich war mir, als sähe ich meinen Vater tatsächlich vor meinen Augen, wie er dort versucht, sich und seine Welt zu beschreiben, und mir wurde einiges klar. Ich konnte etwas von ihm begreifen; konnte verstehen, was ihm schwerfiel, was seine Ziele und Wünsche waren und auch, woran er litt. Das förderte mein Verständnis, und ich konnte ihn achten, wie er ist – weil ich verstand, dass er nicht anders hätte sein können, als er war. Nach einer Pause machten wir am Nachmittag weiter, und ich erlebte noch verschiedene interessante, einsichtsvolle „Walks“ an diesem wie auch an den folgenden Tagen. Wir „gingen“ u. a. noch mich selbst, meine Mutter, meinen Großvater, den Lebenspartner meiner Mutter, die Frau meines Vaters, meine unterentwickelten Bereiche und meinen Blinden Fleck. Teilweise übernahm Joseph meine Rollen, teilweise ging ich selbst einige. Es war spannend und bewegend, in dem Walk direkt zu erleben, wie sich z. B. mein Großvater gefühlt hat, der im Krieg gewesen war und nie ausdrücken konnte, wie er selbst diese Zeit sah – politisch und persönlich – und auch, in welchem Dilemma er sich befand (siehe Kapitel Beispiele).

 

Als ich im April 2008 wieder in Deutschland war, trafen meine Frau und ich uns mit Kollegen und Freunden und experimentierten mehrfach im kleinen Kreis mit dieser neuen Methode. Wir wollten Erfahrungen sammeln und nach Möglichkeiten suchen, die Walking-In-Your-Shoes für uns und künftige Teilnehmer bereithalten würde. Zahllose Rollen sind wir gegangen, sogar homöopathische Mittel wie Sulfur, Mercurius und Natrium chloratum. Tatsächlich haben sich auch deren spezifische Eigenschaften und Wirkungen beim Menschen in diesem Prozess gezeigt; da meine Frau Homöopathin ist, konnten wir das überprüfen. Ich glaube, es gibt noch viele unentdeckte Arbeitsbereiche für diese Methode.

 

Zunächst hatte ich dieser Methode noch keinen großen Platz in meiner beruflichen Tätigkeit als Familiensteller eingeräumt. Ehrlich gesagt hatte ich Zweifel, wie dies jemals an die Wirksamkeit und Tiefe einer Familienaufstellung herankommen sollte. Einige Zeit später ergab es sich jedoch, dass an einem meiner regulären Wochenendseminare nach dem ersten Tag schon alle Anliegen der Familienaufstellung bearbeitet waren. Offensichtlich war aber noch viel Energie in der Gruppe vorhanden, und für den Sonntag war nichts mehr geplant. Da kam mir Walking-In-Your-Shoes in den Sinn, und so lud ich alle spontan ein, am nächsten Tag kostenlos etwas neues mit mir auszuprobieren, falls sie Zeit und Lust hätten. Die Hälfte der Gruppe wollte mitmachen. Zunächst erklärte ich die neue Methode, und danach erlebten wir einige tiefgreifende und erkenntnisreiche Walks. Ich stellte fest, dass die Begeisterung und das Interesse dafür groß war. Die Teilnehmer entdeckten neue und interessante Wege, um sich selbst und andere besser kennenzulernen. Am Ende fragten mich einige, ob ich darin auch ausbilden würde. Ich bat mir Bedenkzeit aus, denn auch für mich war die Methode neu. Doch unter der Prämisse, dass wir Walking-In-Your-Shoes gemeinsam erforschen und ich selbst noch Erfahrungen sammeln müsste, wollte ich diesem vielversprechenden, neuen Weg nachgehen. Als ich mich dann wenige Wochen später dazu entschloss, meldeten sich die meisten Teilnehmer des Experiments auch zur Ausbildung an. Bis zum Ausbildungsbeginn kamen noch weitere 16  Teilnehmer hinzu. Das war der Anfang.

 

Im März 2009 traf ich mich erneut mit Joseph Culp, diesmal in Studio City bei Los Angeles. In der Zwischenzeit war der Entschluss in mir gereift, ein erstes Buch über Walking-In-Your-Shoes zu schreiben, und dafür wollte ich ein Interview mit Joseph machen. Es zeigte sich, dass die zwei Stunden, die uns dafür zur Verfügung standen, sowie für einen Erfahrungsaustausch, zu knapp bemessen waren, und so wurde das Interview zwei Tage später in seinem Apartment in Santa Monica fortgesetzt. Dort, an seinem Küchentisch, lief es viel persönlicher ab; die vorbereiteten Fragen klangen plötzlich nicht mehr vorgefertigt, sondern alles, was ich fragte, war im Fluss. Es entstand eine Nähe und schließlich ein tiefer persönlicher Austausch zwischen uns.

 

Im Juni 2009, bei meinem nächsten Besuch in Los Angeles, verabredete ich mich wieder mit Joseph. Wir hatten diesmal den Plan, John Cogswell, den anderen Mitbegründer von Walking-in-your-shoes, zu besuchen, um auch mit ihm ein Interview für mein geplantes Buchprojekt zu machen (siehe Anhang des Buches). Ich war John Cogswell bisher noch nicht persönlich begegnet, und mein gesamtes Wissen über Walking-In-Your-Shoes stammte von Joseph. Johns Ehefrau Felice hatte uns schon am Telefon gewarnt, dass John sehr langsam spräche und ihn unser Besuch vielleicht kräftemäßig überfordern könne, weil er schon sehr alt sei (zum Zeitpunkt des Interviews 85 Jahre). Auf den Rat von Joseph hin hatte ich deshalb schon im Vorfeld meinen Fragenkatalog von 20 auf 12 Punkte reduziert. John und Felice erwarteten Joseph und mich zum Mittagessen bei sich zu Hause in Santa Barbara. Wir wurden sehr herzlich und ausgesprochen gastfreundlich aufgenommen. Während des wunderbar gelungenen Mittagessens stellte ich meine Arbeit vor und sprach von meiner Absicht, ein erstes Buch über Walking-In-Your-Shoes zu schreiben. John hörte mir aufmerksam zu und schien meine Absicht sehr zu unterstützen. Dabei fiel ihm das Sprechen sichtlich schwer, und Joseph sprang immer wieder mit Formulierungen und Hilfestellungen ein. Ich glaube aber, dass ich das Wesentliche, was John uns sagen wollte, verstanden habe. Während des sich anschließenden Interviews, das Sie im Anhang des Buches nachlesen können, entstand eine außerordentliche Wärme und Nähe, besonders als John uns „oneness“ (Einssein) erklärte. Er, der in der Mitte zwischen Joseph und mir saß, ließ jeden von uns eine seiner Hände ergreifen. Genau das sei „oneness“, sagte John. Ich spürte die innere Verbindung und wusste, was er meinte. 

 

Mittlerweile hat das Walken einen festen Platz in meinem beruflichen Alltag, sowohl in Kursen als auch in Ausbildungen.